Georg Bussmann
Beschreibung und Gedanken im nachhinein
Figuren, Figurenfragmente mit einer nicht abbrechenden 
Kontur aus dem Weiß des Papiers geholt. Die Spannung der Linie gleichbleibend, 
kein Ausfahren, kaum Reuestriche, mal ist der Strich gleichmäßig gezogen, mal 
fährt der Bleistift zackig oder wie ruckend in kleinen Stößen über das Papier, 
dabei gelegentlich eine Spur wie eine endlose, winzig dünne Perlenschnur 
hinterlassend. Manchmal wird das Schwarz tief, der Strich heftig wie abgerissen, 
dann geraten die Figuren in Bewegung; ein anderes Mal werden die Striche wie 
fahrig suchend gesetzt, dann scheint das Blatt zu beben und die Figur unsicher, 
wie zitternd gehalten.
Der Platz, den eine Figur im Weiß des Papiers fındet, ist 
irgendwo. Nur selten bestimmt da eine Perspektive das Bildfeld. Das Weiß des 
Papiers ist nicht Hintergrund, sondern umgebender Raum, Leere und Fülle 
zugleich, nicht mitgestaltet, aber doch mitagierend; so, wenn die geschlossene 
Kontur einer Figur zurückweicht und sich aus dem Negativen bizarre Risse bilden, 
Löcher wie Ausfressungen am Rande oder tiefe Buchten, die ins Innere der Figur 
führen.
Niemals ist dies Gezeichnete autonomes, sich selbst 
bedeutendes Zeichen, immer will, was man sieht, buchstäblich, d.h. 
gegenständlich als Figur genommen werden, - also dringt der Raum in Figuren ein, 
verschwindet der Kopf in der Brust, spitzt sich der Finger zum Pfeil, wachsen 
dem Baum Kopf und Arme, hängen Körper siamesisch zusammen. Und immer scheint im 
Lesen und Identifizieren dieser Figuren im Hintergrund unsere Normal-Erfahrung 
auf, vor deren Folie dann das Gesehene als Übersteigerung oder Verlust, als 
Abweichung oder Deformation erkannt wird.
Figuren wie Formeln für Figuren sind das oder doch dahin 
unterwegs, manchmal blaß und blasser werdend, wuchernde Arabesken, gelegentlich 
zu maniriert artistischen Pointen getrieben, dabei wie abgezogen, was heißt 
abstrakt, und aus der Entfernung gesehen, von einem Endpunkt von Empfindung und 
Denken aus und zugleich auch wie erst am Anfang einer endlosen Geschichte. Was 
macht mehr betroffen, die einzelne rätselhafte Geste, das mit Bedeutung geladene 
Geschehen, die Texte aus Worten deutlich und undeutlich zugleich, - oder die 
Gestimmtheit dieser Arbeit im ganzen, das scheinbar Fremde, Weitentfernte der 
Welt, von der da gesprochen wird? Was hier Thema ist, ist der unablässig 
strömende, nicht abreißende Fluß der inneren Bilder, das innere Kino, aggressiv, 
dunkel, abstrus, - böse und komisch zugleich und immer bodenlos. Auch Lust ist 
dabei, aber eine unerlöste. Traumwelt nennen wir das gewöhnlich 
und trennen dabei die Traumsicht scharf von der Tagsicht, d. h. der bewußten 
Wahrnehmung der Dinge. Ein Trennen, das stets mehr ist als nur Unterscheiden, 
das Ausgrenzen ist. Immer, wenn wir etwas dem Traum zuweisen, wähnen wir uns 
zugleich „darüber“ stehend und stehen doch nur auf den Krücken eines verkürzten 
Rationalitätsprinzips. Wenn die Künstler sich nicht an diese Abgrenzungen 
halten, so dürfen die das.
Wir blicken dann befremdet, aber auch neugierig auf deren 
Bilder von „drüben“ und vergessen dabei, wie dünn und eigentlich nur auf einer 
Absprache beruhend die Grenze ist von dem einen Land zum anderen, und daß es 
überhaupt ein Land ist. Im Grunde haben wir schon ein Bewußtsein davon, wie 
zerbrechlich und starr das Gerüst unserer Begriffe ist, und wir können uns 
vorstellen, daß alles sich umkehren könnte, und - wie Pascal schreibt - wenn uns 
jede Nacht derselbe Traum käme, wir allmählich begännen, diesen für ebenso
wahr anzunehmen wie das, was wir Wirklichkeit nennen.
Kann man Angst-Lust genießen, kann man aus Angst-Lust 
lernen, - vielleicht nur aus ihr? Was macht da Angst und was Lust? Angst macht 
die Vorstellung, vom Strom der inneren, der „anderen“ Bilder überwältigt und 
hinweggeschwemmt zu werden, Lust könnte bereiten, die flache Banalität der 
Realitätsabsprachen - und erst recht deren Wertungen -zu lassen oder sie zu 
kippen. Innenwelt wird Außenwelt und Außenwelt wird Innenwelt, wird erfahrene 
Welt. Gefühle werden den Extremen ausbalanciert, die Form der Zeichnung bis an 
den Rand zum Zerfall oder zur Erstarrung gebracht - und gehalten, ein Spiel, 
ohne das es keine Kunst gäbe und natürlich auch nicht diese.
Die Motive und Zeichen, die bei Martina Kügler 
auftauchen, entstammen einem Arsenal,das außer oder vor jeder Geschichte den 
Künstlern und Dichtern immer zur Verfügung stand und steht. Es ist die alte 
Esoterik der Sprache der Narren und Träumer, geheimnisvoll und esoterisch gewiß, 
aber Träumer sind wir alle. Entscheidend ist, „daß naturgegebene oder 
spielerisch entstandene Formen nicht als das genommen werden, was sie einer 
exakten naturwissenschaftlichen Beschreibung nachsind, sondern daß der Betrachter 
… 
 Formen 
aus seinem Vorstellungsschatz hineinzieht. Er wird angeregt, solche latenten 
Formvorstellungen in sich lebendig werden zu lassen, und diese Anregungen von 
seiten der unbestimmten Formgegebenheiten können sich je nach der Anregbarkeit 
des Betrachters zu Forderungen steigern. Es ist dann, als ob die im Beschauer 
auftauchenden Formenvorstellungen in dem Außendinge vorhanden wären, als ob er 
sie wahrnähme.“  Hans 
Prinzhorn spricht hier vom Künstler, aber eben nicht nur von diesem. Und das 
wäre der letzte Schluß dieser Arbeit: In diesen Bildern die eigenen erkennen, in 
der anderen Subjektivität die eigene, und da dies immer Kunst, d. h. ein „als 
ob“ bleibt, wird das Eigene im Spiegel dieser Blätter aushaltbar, wird es 
überhaupt erst eigen, - wenn auch ohne Heilung.
                                                                                                                                                                                                          Nachwort in 
Martina Kügler, Kopf überm Dach, Heidelberg 
1986